Teil II - "El Verdader"
Wir fahren weiter und kommen zum Gelände einer Lehrwerkstatt, das Centro "Antonio Escrivá". Hier
konnten Jugendliche das Malerhandwerk erlernen und
erhielten Unterricht in künstlerischer Gestaltung, ebenfalls von Emaús gefördert. Doch diese Einrichtung musste bereits vor einiger Zeit geschlossen werden, da die nötigen Gelder fehlen, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Die Außenwände und Mauern des Gebäudes zeugen von dem Einfluss der Lehrer: Sie sind mit Szenen aus dem Arbeitsleben bemalt. Doch wenn man ganz genauer hinsieht, erkennt man, dass es eigentlich Bilder sind, die vor Unachtsamkeit und Leichtsinn warnen sollen, durch die es immer wieder zu Arbeitsunfällen kommt.
- Centro de Talleres de Formación ocupacional
- Detail
- Eingangsbereich El Verdader
Wir gelangen zum Zentrum "El Verdader". Das Untergeschoss des langgestreckten Gebäudes ist ein Heim für Kinder bis zu 6 Jahren, in der ersten Etage ist ein Frauenhaus untergebracht. Hier wohnen Mütter mit ihren Kindern. Nachdem wir an der verschlossenen Pforte geläutet haben, stürmt eine Schar kleiner Kinder auf uns zu. Montse nimmt gleich eines von ihnen auf den Arm, das ihr sein verletztes Fingerchen unter die Nase hält. Ein anderes greift nach ihrer freie Hand und noch ein anderes meine, und dann plappern alle ganz aufgeregt durcheinander, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Das Kind hatte am Morgen einen Finger in der Tür geklemmt und zeigt nun, wo der Schmerz vorbei ist, voller stolz sein Pflaster. Wir kommen an einem bunten Fahrzeugpark vorbei, all diese Spielzeugautos wurden gespendet. Es ist kurz vor Mittag, aus der Küche duftet es lecker. Die Kinder tollen, umgeben von drei Erzieherinnen, auf der Erde.
- Der kleine Fuhrpark
- Teddys in Reih' und Glied
Ein kleiner Dötz springt auf, läuft in sein Zimmer und kommt mit einer Schmusedecke zurück, die er über den Boden hinter sich herzieht und mir stolz zeigt. Schnell wird sie ihm wieder abgenommen und zusammengefaltet aufs Bett gelegt. Wie überall in den Einrichtungen wirkt auch hier alles sehr aufgeräumt und strukturiert. Das ist wohl auch nicht anders möglich, diese Kinder brauchen Ordnung und Sauberkeit, etwas das sie neben mangelnder Nestwärme Zuhause nicht kennengelernt haben.
- Der Kleine zeigt Montse sein Bettchen
- Der Kleine zeigt Montse sein Bettchen
Die Zimmer sind klein, aber hübsch dekoriert mit bunten Stoffen. Die Kinder, die oben auf den Etagenbetten schlafen, haben ein kleines Zelt über ihr Kopfteil gespannt. An jedem Fußende der Bettchen liegt eine individuell gearbeitete Patchworkdecke, mit dem eingenähten Namen des Kindes und des Spendervereins. Schon als ich mich im Vorfeld über Emaús erkundigte, erfuhr ich von der Initiative des Patchworkvereins aus Altea. Die Frauen hatten vor Weihnachten für jedes Kind der elf Kinder dieses Hauses eine eigene Decke genäht.
- Im Babyzimmer
Wir gehen in ein weiteres Kinderzimmer, in dem zwei Babys in ihren Bettchen liegen. in einem ein kleines Mädchen, ein Frühchen, das seine ersten drei Lebensmonate im Brutkasten verbracht hat - das Ergebnis einer Verbindung zwischen einer 16Jährigen und einem Schwarzafrikaner. Im anderer Bettchen liegt still ein kleiner Junge, Pablo, ihr erinnert euch? Das ist der taubblinde Junge aus Pakistan, der von seiner Mutter 30 Stunden nach der Geburt verlassen wurde und dessen Schicksal Anlass für unsere Spendenaktion wurde. Seit seinem zweiten Lebenstag lebt er hier. Inzwischen ist er zwei Jahre alt und eigentlich viel zu klein und zart für sein Alter. Ein hübscher Junge. Eins seiner Augen ist abgeklebt. Gibt es doch noch Hoffnung für ihn? Ich frage nicht nach. Sein Anblick erschüttert mich, ich kann nicht verhindern, dass ich feuchte Augen bekomme. Als ich ihn sanft über seine weichen Haare und seine Wangen streichele, reagiert er kaum spürbar. Ich weiß nicht, wie viel Zeit die Erzieherinnen für ihn erübrigen können - neben der lebhaften Rasselbande draußen auf dem Flur. Pablo hat auch eine eigene Schmusedecke bekommen, aber eine ganz besondere. Bei ihm sind es nicht die Farben, sondern die unterschiedlich strukturierten Stoffarten, die er mit seinen kleinen Händchen ertasten kann, eine Abwechslung für ein Menschenkind, das mit seiner Umwelt nicht in Kontakt treten kann.
- Die Küche
Im Speiseraum wird inzwischen gegessen.
Wie in allen Räumen verzieren bunte Disneyfiguren die Wände, auch sie stammen von den ehemaligen Malerschülern. Neben Donald Duck und Daisy erblicken wir einen handgeschriebenen Zettel an der Wand, auf ihm stehen die Regeln für den Speisesaal:
- Normas del Comedor
-Nicht schreien
-Mit geschlossenem Mund essen
-Nicht zu schnell und nicht zu langsam essen
-Nicht aufstehen, bevor alle fertig sind
-Jeder nimmt sein Geschirr (Gläser, Teller, Besteck)
-Alle beginnen gleichzeitig zu essen
Ob diese Regeln den Kindern regelmäßig in Erinnerung gebracht werden? Auf jeden Fall ist es still geworden. Kinder und Erzieherinnen sitzen gemeinsam um den großen Tisch und genießen das Essen. Alle haben einen bunten Salatteller vor sich, in der Mitte wartet als Hauptgang ein dampfender Topf mit einem Linsengericht . Das Essen hier, wie auch in den anderen Einrichtungen, wird von Köchinnen zubereitet..
Eine warme Mahlzeit am Tag, diese in Ruhe gemeinsam genießen, gibt neben Ordnung und Sauberkeit diesen Kindern aus zerrütteten Verhältnissen Sicherheit und Geborgenheit. Hier spielen sie die Hauptrollen und sind nicht, wie in ihren Familien, eine ungewollte Belastung.
Wir betreten ein sehr großes, buntes Badzimmer. Ein langer Wickeltisch mit mehreren Plätzchen reicht von Wand zu Wand. Auch hier ist alles sauber, nichts müffelt. Montse meint strahlend, ich müsste mal erleben, wenn abends die Kinder gebadet werden und wie ausgelassen sie dann hier plantschen, bevor sie ins Bett gebracht werden.
- Badezimmer
- Eine lange Reihe Wickeltische
Im hinteren Trakt des Hauses liegt der Speiseraum des Frauenhauses. Hier herrscht ein wenig Kantinenatmosphäre. Man sieht den jungen Gesichtern der Frauen ihr Schicksal an, jedes von ihnen geprägt von Missbrauch, erzwungener Abhängigkeit, keine von ihnen fähig, ohne fremde Hilfe zu überleben. Hier sind sie in Sicherheit, doch es ist nur eine Flucht auf Zeit, bevor sich die meisten von ihnen wieder in die Abhängigkeit ihrer Peiniger begeben. Sie bewohnen mit ihren Kindern im Obergeschoss ein eigenes Zimmer, essen zusammen und machen ihre Wäsche - wie ich mitbekommen habe, die einzige Arbeit, die sie verrichten müssen. Sie sollen vor allen Dingen lernen, sich um ihre Kinder zu kümmern und sich aus ihren sozialen Fesseln zu befreien. Ihre Zimmer betreten wir nicht, der Eingriff in die Privatsphäre wäre zu groß.
- Pinnwand der Mütter
Vor dem Speisesaal hängt eine Pinnwand, an die Mütter Zettel geheftet haben mit Gedichten, in denen es um Suche nach Liebe, um Tränen, Verzweiflung und Hoffnung geht, die den Wunsch ausdrücken, stark und glücklich zu werden, und die von der Sehnsucht nach ihren Kinder erzählen, die sie zurück gelassen haben, von ihren Wünschen nach Frieden und die Hoffnung auf ein klein wenig Glück.
Zeilen wie diese zeigen die verwundeten Seelen:
"Das Leben ist süß,
so süß wie ein bitterer Kuchen..."
oder
"Ich möchte leben,
doch ich weiß nicht, wie das geht...."
Wir verlassen das Haus und werfen beim Abschied noch einen Blick auf den Spielplatz hinter dem Haus: unter den Geräten geharkter Sand, alles gepflegt - wie aus dem Bilderbuch...
Vor dem Haus stand der Kleintransporter, in dem ich neun Kindersitze zählte.
- Spielplatz hinter dem Haus
Die nächste und letzte Station unserer kleinen Rundfahrt ist das Seniorenheim, über das ich im dritten und letzten Teil berichten werde.